Employability: Bedürfnisse des Arbeitsmarktes statt unabhängige Kompetenzvermittlung an den Hochschulen

verabschiedet am 1. September 2012 an der ausserordentlichen Delegiertenversammlung des VSS in Zürich

Im Rahmen der Bologna-Reform wurde unter anderem das Schlagwort Employability eingeführt. Employability ist ein schwierig zu definierendes Konzept. Es handelt sich um mehr als um den Zugang zum Arbeitsmarkt. Employability bedeutet im Kontext der Universitäten, dass akademische Kompetenzen vermittelt werden, welche die AbsolventInnen befähigen, sich auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren.

Die European Higher Education Area (EHEA) definiert Employability als eines ihrer wichtigsten Ziele und Prioritäten der Hochschulbildung und beschreibt sie folgendermassen: die “ability to gain initial employment, to maintain employment, and to be able to move around within the labour market.“

Die Mehrheit der Studierenden wird sich nach dem Studium in den Arbeitsmarkt integrieren (wollen), das Konzept der Employability hat es somit an sich schon immer gegeben. Hingegen wurde die Reflexion über den Begriff der Employability in Folge der Bologna-Reform anders akzentuiert. Diese Tendenz wirft die grundsätzliche Frage nach den stärker werdenden Verflechtungen des akademischen und wirtschaftlichen Bereichs auf.

Die HochschulabsolventInnen bewegen sich irgendwann auf dem Arbeitsmarkt, das ist eine Tatsache, die vom VSS anerkannt wird. Der VSS anerkennt, dass AbsolventInnen nach Abschluss eines Hochschulstudiums mit dem Arbeitsmarkt konfrontiert werden und sich mit seinen Bedingungen und Anforderungen auseinandersetzen müssen. Der VSS ist sich jedoch bewusst, dass die Arbeitsmarktbefähigung differenziert betrachtet werden muss. So unterscheidet sich in dieser Frage insbesondere die Rolle von geisteswissenschaftlich ausgerichteten Studiengängen zu einzelnen technisch oder medizinisch ausgerichteten, sowie Fachhochschulstudiengängen.

Die grundsätzliche Frage nach den Fähigkeiten, die mit einem Hochschulstudium erworben werden sollen, darf nicht im Wesentlichen mit Hinblick auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes beantwortet werden. In diesem Zusammenhang spielte die Hochschulreform eine wichtige Rolle: Unklar bleibt hingegen, was Arbeitsmarktbefähigung im Zusammenhang mit Hochschulbildung wirklich bedeutet und ob sie als Kriterium für Qualität der Ausbildung, Definition von Ausbildungszielen, Gewährleistung der freien Ausbildungswahl usw. tatsächlich anwendbar ist. Zudem stellt sich grundsätzlich die Frage, welche Befähigungen HochschulabsolventInnen erfahren sollen und ob dem Arbeitsmarkt nicht zu viel Bedeutung beigemessen wird. Die Implementierung des Bologna-Systems hinkt europaweit. Viele Ziele wurden nicht erreicht oder auf dem Weg verändert und den nationalen Begebenheiten so angepasst, dass eine internationale Harmonisierung verunmöglicht wird. Anstatt Hürden abzubauen wurden neue geschaffen. In der Schweiz hat die Umstellung auf Bachelor und Master dazu geführt, dass viele Studiengänge trivial in zwei Perioden getrennt wurden. Eine sinnvolle und studierendenzentrierte Modularisierung der Studiengänge ist noch lange nicht umgesetzt. Diese Umstände bestätigen den VSS in seiner kritischen Haltung gegenüber der Reform.

Die Employability wird immer mehr zum Kriterium für gute und qualitative Lehre und zum bestimmenden Faktor für die öffentliche Finanzierung. Dass viele Studiengänge (klassischerweise universitäre) in ihrer Natur nicht als Ausbildungsgänge im wirtschaftlichen Sinn konzipiert sind, wird in der Diskussion völlig ausgeblendet. Der VSS erachtet es deshalb für unerlässlich, die Definition der Employability zu differenzieren. Diese muss auf einer unabhängigen und studierendenzentrierten Kompetenzvermittlung basieren und soll nicht von den Ansprüchen an den Arbeitsmarkt ausgehen. Vielmehr sollte davon ausgegangen werden, dass unabhängig denkende AbsolventInnen von Hochschulen sich im Arbeitsmarkt auch zurechtfinden werden und damit employable sind.

Unabhängige Lehre und wissenschaftliche Freiheit müssen bewahrt bleiben

Die Lehre darf an keiner Hochschule in Abhängigkeit zu wirtschaftlichen Faktoren geraten. Die wissenschaftliche Freiheit ist eins der wichtigsten Prinzipien der Bildung und Forschung und muss bewahrt bleiben, um den Interessen der gesamten Öffentlichkeit zu entsprechen, und die öffentliche Finanzierung und Steuerung des Bildungswesen zu legitimieren. Das bedeutet für den VSS, dass die entsprechenden Studiengänge nur nach wissenschaftlichen Kriterien aufgebaut und evaluiert werden dürfen, und die Kompetenzvermittlung nach diesen zu gestalten ist.

Keine willkürliche Steuerung und die Gewährleistung der freien Studienwahl

Die Hochschulbildung wird zunehmend als Dienstleistung verstanden und damit zum handelbaren Gut gemacht. Die Studierenden werden als Angebot für den Arbeitsmarkt gesehen, die sich nach der Nachfrage richten sollen. Forderungen nach Steuerung der Studienwahl über bekannte und neue Instrumente werden immer lauter: Schwächung der öffentlichen Finanzierung für gewisse Studienrichtungen, Zulassungsbeschränkungen, nachlaufende kostendeckende Studiengebühren, Darlehen anstatt Stipendien. Dies alles im Glauben, dass über Geld eine künstliche Präferenz für die nachgefragten Studienabschlüssen erzwingbar sei. Der VSS wehrt sich vehement dagegen und bekennt sich klar und deutlich zum freien und fairen Zugang zur Hochschulbildung für alle nach Neigung und Fähigkeit, und wird diesen weiterhin verteidigen.

Aufwertung der Kompetenzen

Der Studienverlauf der Studierenden ist sehr heterogen. Diese Vielfalt muss an sich als ein Wert der Hochschulbildung angesehen und entsprechend anerkannt werden. Die angeeigneten Kompetenzen im eigenen wissenschaftlichen, aber auch im generellen Kontext, sind wichtiger als Studienort und Studiendauer. Die Anerkennung der Kompetenzen ermöglicht eine objektivere Beurteilung und schafft gleiche Bedingungen für alle.

Umdenken in der Lehre: student-centred learning

Der VSS ist der Überzeugung, dass Employability umgedacht werden muss: Berufsbefähigende Abschlüsse sind – gerade in der Schweiz – nicht in erster Linie in den tertiären Ausbildungen anzubieten. Die akademische Bildung in ihrer humanistischen Natur zeichnet sich durch einen wissenschaftlichen Pluralismus aus, der für die Aneignung von Wissen unentbehrlich ist und keiner zusätzlichen Legitimation bedarf. Sie gehört geschützt und darf sich entsprechend nicht an der Nachfrage eines Marktes richten, welcher ausschliesslich kurzfristige wirtschaftliche Zielsetzungen verfolgt.

Employability bedeutet im Zusammenhang mit Hochschulbildung viel mehr: Den Studierenden soll die Möglichkeiten offenstehen, sich selbstständig und nach ihren Interessen gerichtet zu entwickeln. Auch die EHEA hat den Handlungsbedarf erkannt und sich im Communiqué von Bukarest zum Prinzip des student-centred learning  in der Hochschulbildung verpflichtet: „Higher education should be an open process in which students develop intellectual independence and personal self-assuredness alongside disciplinary knowledge and skills. Through the pursuit of academic learning and research, students should acquire the ability confidently to assess situations and ground their actions in critical thought.” Der VSS ist höchst erfreut über diesen Beschluss, fordert die Schweizer Hochschullandschaft auf das Prinzip umzusetzen und plädiert für ein Umdenken in der Lehre an den Hochschulen.